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Der Begriff „Wachstumsfetischismus“ hat inzwischen Eingang in den Duden gefunden. Begleitet wird er übrigens von den etwas seltsamen Personenzuschreibungen „Wachstumsfetischistin“ beziehungsweise „Wachstumsfetischist“. Man fragt sich, wer oder was genau das sein soll. Negativ ist das Wort Fetisch in jedem Fall gemeint: Egal ob dabei eher religiöse oder sexuelle Assoziationen mitschwingen – stets geht es um die Überhöhung von etwas eigentlich Unwürdigem.
Als die Wirtschaft noch lief (also wuchs), galten Formeln wie De-Growth, Post-Growth oder Zero Growth als Verheißungen einer nachhaltigeren Lebens- und Wirtschaftsweise. Ein Verzicht auf Wohlstandszuwächse, so die Hoffnung, könnte letztlich die Umwelt schonen. Dass Wirtschaftswachstum nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen krank macht, galt manchem als selbstredend. Wenn die Jagd nach dem Mammon nachlässt, könnten wir dann nicht ein zufriedeneres, selbstbestimmteres Leben führen?
Nun muss man sagen, dass Zero Growth weitgehend erreicht ist. Allerdings hält sich das Vergnügen darüber in Grenzen. Deutschlands Wirtschaftsleistung verharrt seit Jahren in etwa auf konstantem Niveau. Derzeit geht das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wieder mal leicht zurück. Seit Beginn der Coronapandemie tritt die deutsche Wirtschaftsleistung in etwa auf der Stelle. Mal ein paar Schritte vor, dann wieder ein paar zurück. So geht das seit bald fünf Jahren.
Für die Eurozone als ganze ist die Lage unwesentlich anders. In der abgelaufenen Woche hat der Internationale Währungsfonds (IWF) seinen Europa-Ausblick vorgelegt. Die Pro-Kopf-Einkommen diesseits des Atlantiks liegen demnach inzwischen um ein Drittel unter US-Niveau. Vor 15 Jahren waren die Werte noch annähernd vergleichbar hoch.
Mittwoch legen die Statistiker in Washington, Luxemburg und Wiesbaden vorläufige Schätzungen darüber vor, wie sich die Wirtschaft in den USA, in der Eurozone und in der Bundesrepublik im dritten Quartal 2024 entwickelt hat. Die transatlantische Lücke vergrößert sich weiter. Dem IWF-Bericht zufolge dürften die Trends auch in der absehbaren Zukunft weiter auseinanderlaufen.
Diesem Rückgang des Wirtschaftswachstums etwas Positives abgewinnen zu wollen, wäre einigermaßen verwegen.
Glückliches Japan?
Natürlich, eine Volkswirtschaft muss nicht immer mehr Produkte erzeugen und vermarkten. Es gibt noch andere Ziele – Nachhaltigkeit, Stabilität, Verteilungsgerechtigkeit. Wenn eine Nation sich also darauf verständigt, dass es das nun gewesen sein soll mit den Zuwächsen, weil ihr andere Dinge wichtiger sind, sollte man sie dann nicht gewähren lassen?
Ich fürchte allerdings, dass dahinter die Vorstellung steht, alles könne so bleiben, wie es ist – beziehungsweise: wie wir es uns angewöhnt haben, in vielen Jahrzehnten des Wachstums normal zu finden. Eine äußerst gewagte Annahme.
Hier sind fünf Argumente, warum wir letztlich keine andere Wahl haben, als weiter auf Wachstum zu setzen.
Erstens, und ganz grundsätzlich, muss eine schrumpfende Bevölkerung nicht unbedingt wachsen, um Wohlstandszuwächse für die Bürgerinnen und Bürger zu erzielen. Wenn sich ein stagnierendes BIP auf eine immer kleinere Zahl von Köpfen verteilt, fühlt sich das individuell immer noch nach Wachstum an. Japan könnte als Beispiel für eine solche Entwicklung herhalten: Trotz Bevölkerungsrückgang ist das Wohlstandsniveau kaufkraftbereinigt in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter gestiegen.
Allerdings wächst Deutschlands Bevölkerung nach wie vor, nämlich durch Zuwanderung. Auch die Zahl der Beschäftigten steigt weiter. Bei stagnierendem BIP geht deshalb die Wirtschaftsleistung pro Kopf zurück. Ein Zustand schleichender Verarmung, der das Selbstempfinden einer Gesellschaft ziemlich grundlegend verändern kann, und zwar keinesfalls zum Besseren.
Deutschland als Nullsummenspiel
Zweitens, wenn keine Zuwächse mehr erwirtschaftet werden, spitzen sich Verteilungskämpfe zu. Die Gesellschaft verstrickt sich leicht in ein Nullsummen-Szenario, in dem irgendjemand verlieren muss, damit man selbst etwas gewinnen kann. Konflikte, die sich bei Wachstum leichter lösen lassen, gewinnen nun an Heftigkeit – zwischen Schichten und gesellschaftlichen Gruppen, zwischen Generationen und Geschlechtern, zwischen Zugewanderten und Ansässigen. Eine befriedete Gesellschaft lässt sich wachsend deutlich leichter herstellen.
Vergleichen Sie bitte die 2010er-Jahre, als in Deutschland – dank solidem Wachstum und sprudelnder Steuereinnahmen – für alles mögliche Geld im Bundeshaushalt da war, mit dem elenden Haushaltsgezerre der Ampelkoalition. Das hat nicht nur mit den beteiligten Figuren zu tun – und mit der Kurzsichtigkeit, mit der in den langen Jahren unter Angela Merkel viele langfristige Herausforderungen beharrlich ignoriert wurden –, sondern auch mit der objektiv zunehmenden Knappheit an Haushaltsmitteln (siehe die Steuerschätzung, die in der abgelaufenen Woche veröffentlicht wurde). Das gilt übrigens auch für die Tragfähigkeit des Alterssicherungs- und Gesundheitssystems. Ohne Wachstum ist die Unterstützung einer steigenden Zahl von Alten kaum auf bisherigem Niveau finanzierbar.
Drittens, viele Indikatoren des individuellen Wohlbefindens sind eng mit dem BIP pro Kopf verbunden – von der individuellen Lebenszufriedenheit bis zur Lebenserwartung. Ein höheres Wohlstandsniveau verhilft den Bürgern nicht nur dazu, mehr Güter konsumieren zu können, sondern auch mehr erbauliche und hilfreiche Dienstleistungen – von Kultur bis Gesundheit.
Unternehmer verlassen das Land
Viertens, Innovation und Fortschritt sind unter den Bedingungen der Stagnation viel schwieriger zu bewerkstelligen. Bei schwachen Staatseinnahmen wird erfahrungsgemäß auch bei Bildung und Forschung gekürzt. Dazu kommt ein weiterer Effekt: In einem schrumpfenden Umfeld kämpfen gerade junge, innovative Unternehmen mit strammem Gegenwind. In wachsenden Märkten hingegen geht vieles leichter. Entsprechend agieren Gründer in einem abschreckenden Umfeld.
Die Zahl der neu eingerichteten Unternehmen ist binnen der vergangenen 20 Jahre auf ein Drittel gefallen. „Der Gründungstätigkeit fehlen die makroökonomischen Impulse“, konstatiert die Förderbank KfW.
So verfestigt sich die Schrumpfung: Wo wenige Gründer ihr Glück versuchen, sind auch die Chancen gering, die Gewinnerfirmen der Zukunft heranzuziehen. Entsprechend leidet die Innovationsfähigkeit. Wer unternehmerisch etwas erreichen will, geht lieber ins Ausland.
Wie viel Sicherheit können wir uns noch leisten?
Fünftens, Wachstum ist inzwischen auch eine Frage der militärischen Sicherheit. Ohne leistungsfähige Wirtschaft werden wir kaum die notwendigen Ressourcen in einem zunehmend feindseligen internationalen Umfeld mobilisieren können. Noch hält sich in Deutschland hartnäckig die Illusion, es werde auch künftig genügen, zwei Prozent des BIP fürs Militär auszugeben.
Dabei verdüstert sich die geopolitische Lage gerade rapide. In der abgelaufenen Woche hat der Gipfel der BRICS-Staaten der Welt vorgeführt gezeigt, dass Wladimir Putins Russland keineswegs isoliert ist, sondern dass sich der Fernostblock mit China im Zentrum festigt. Währenddessen deuten aktuelle Wahlumfragen darauf hin, dass Donald Trump übernächste Woche abermals zum US-Präsidenten gekürt werden könnte – mit einer weitaus radikaleren Agenda, als er sie in seiner ersten Amtszeit verfolgt hat. Das Ende der Nato, auf jeden Fall aber der US-Unterstützung für die Ukraine, würde damit bedrohlich näher rücken.
Europas Sicherheitslage wird sich absehbar drastisch verschlechtern. Und es wird insbesondere von Deutschland abhängen, ob wir eine effektive Abschreckung hingestellt bekommen. Andernfalls werden sich Übergriffe auf uns und unsere Partner kaum verhindern lassen.
Um auf Militärausgaben zu kommen, die den US-amerikanischen in Relation zur Größe der Volkswirtschaft entsprechen, müssten wir jährlich 150 Milliarden Dollar ausgeben, rund doppelt so viel wie derzeit (inklusive Mitteln des Rüstungstopfs „Sondervermögen Bundeswehr“, der in wenigen Jahren ausgeschöpft sein wird). Diese Bürde wird tragbar sein, wenn wir aus der selbst gestellten Wachstumsfalle herausfinden. Gelingt das nicht, werden wir Europäer über unser Schicksal nicht mehr selbstbestimmt entscheiden können, wie Mario Draghi in seinem Report europäischen Leistungsfähigkeit kürzlich eindringlich warnte. Er hat recht (Wir sprachen darüber, siehe hier). Der IWF unterstützt Draghis Vorschläge übrigens ausdrücklich. Es wäre dringend nötig, dass sich auch die Bundesregierung damit ernsthaft auseinandersetzt.
Pioniere, Förderer, Freigeister: Welche Vorbilder die deutsche Wirtschaft jetzt brauchtVon Eva Buchhorn
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Sicherheit und Selbstbehauptung
Die relaxte Vision einer glücklichen Post-Growth-Gesellschaft ist jedenfalls unter den gegebenen Bedingungen eine gefährliche Illusion. Ins Zentrum der Wirtschaftspolitik gehört deshalb alles, was unsere Produktivität und Schlagkraft erhöht.
Es geht dabei nicht um „Wachstumsfetischismus“, sondern um Sicherheit und Selbstbehauptung, und zwar in einem umfassenden Sinn. Wirtschaften ist kein Ziel an sich, sondern ein wirkungsvolles Mittel – um grundlegendere Werte zu erreichen und zu erhalten.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche
Montag
Frankfurt – Schwache Aussichten – In den Tarifverhandlungen der Metall- und Elektroindustrie endet die Friedenspflicht. Von nun an sind Warnstreiks möglich.
Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Traton, Philips, Ford, Motor.
Dienstag
Nürnberg – Schlechte Stimmung – Die Konsumforschungsinstitute GfK und NIM stellen ihre monatliche Studie zum Konsumklima in Deutschland vor. Die Deutschen haben wieder mehr Geld in der Tasche, geben aber wenig aus, sondern sparen.
Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Lufthansa, Adidas, Covestro, Clariant, Santander, Novartis, HSBC, BP, Pearson, Alphabet, Corning, Mondelez, Visa, PayPal, JetBlue, McDonald's, Saint-Gobain, Pfizer.
Mittwoch
Mittwoch
Wiesbaden, Luxemburg, Washington – Kassensturz – Die statistischen Ämter des Bundes, der EU und der USA legen erste Schätzungen für das BIP im dritten Quartal vor. Außerdem erscheinen erste Prognose der Inflationsrate im Oktober für Deutschland und die Eurozone.
Nürnberg – Mehr Arbeitslose – Die Bundesagentur für Arbeit gibt die Statistik für den Arbeitsmarkt im Oktober bekannt.
Wolfsburg – Taumelnder Riese – Zweite Runde der Tarifverhandlung zwischen Volkswagen und der IG Metall. Die Gewerkschafter wollen sieben Prozent Plus. Der Konzern tut sich extrem schwer, ins Elektrozeitalter voranzurollen.
Berichtssaison III – Geschäftszahlen von BASF, Kion, Airbus, Schneider Electric, Axa, Prada, Endesa, UBS, Sandoz, Biogen, Standard Chartered, Glencore, AbbVie, Microsoft, Amgen, Aston Martin, GlaxoSmithKline, Eli Lilly.
Donnerstag
Frankfurt – Schwaches Herz der Wirtschaft – Der Maschinenbauverband VDMA veröffentlicht neue Zahlen zu Auftragseingängen bei den Mitgliedsunternehmen.
Luxemburg – Euro-Preise – Die Europäische Statistikbehörde Eurostat veröffentlicht ihre Schnellschätzung zur Inflation im Euroraum im Oktober.
Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Aixtron, Knorr-Bremse, Stellantis, Anheuser-Busch InBev, Société Générale, Totalenergies, ING, A.P. Moller-Maersk, BBVA, CaixaBank, Intesa Sanpaolo, BNP Paribas, Carlsberg, Shell, Apple, Conoco Phillips, Bristol Myers Squibb, Mastercard, Uber, Merck & Co., Intel.
Freitag
Freitag
Washington – Der Jobmarkt kurz vor der Wahl – Die US-Regierung veröffentlicht Daten zur Arbeitsmarktentwicklung.
Berichtssaison V – Geschäftszahlen von Exxon, Chevron.